Interview

Vor drei Jahren wagte Luxusreiseberaterin Julia Vergiles von Vergiles Travel einen lebensverändernden Schritt: Sie verließ die kriegsgebeutelte Ukraine und ließ sich in Budapest nieder. In LuxusInsider spricht sie offen über ihre aktuelle Lebenssituation, die tiefgreifenden Herausforderungen, denen sie weiterhin begegnet, und über die unerwarteten Chancen und persönlichen Entwicklungen, die die Krise mit sich gebracht hat.

Interview

Vor drei Jahren wagte Luxusreiseberaterin Julia Vergiles von Vergiles Travel einen lebensverändernden Schritt: Sie verließ die kriegsgebeutelte Ukraine und ließ sich in Budapest nieder. In LuxusInsider spricht sie offen über ihre aktuelle Lebenssituation, die tiefgreifenden Herausforderungen, denen sie weiterhin begegnet, und über die unerwarteten Chancen und persönlichen Entwicklungen, die die Krise mit sich gebracht hat.

"Das Fehlen kommerzieller Flüge aus der Ukraine verursacht lange Überland-Transfers für meine Kunden zum nächstgelegenen Flughafen."

LuxusInsider: Liebe Julia Vergiles, bitte fassen Sie Ihre touristische Karriere kurz zusammen. Julia Vergiles: Angefangen hat alles im Jahr 2011. Damals arbeitete ich als Business Development Managerin in einer Anwaltskanzlei. Ich hatte mich etwa ein Jahr zuvor auf eine Stelle beim Luxus-Concierge-Service Quintessentially beworben und die Bewerbung fast schon vergessen, als sie sich plötzlich doch noch meldeten und mir den Job anboten. Ich nahm an und blieb bis 2012, als das Büro geschlossen wurde. Heute fällt mir kaum etwas ein, was ich nicht tun könnte – denn als Luxus-Concierge muss man einfach alles machen. Anschließend arbeitete ich für kurze Zeit mit einer ehemaligen Kollegin von Quintessentially zusammen. Doch 2013 gründete ich mein eigenes Unternehmen: eine private Reiseagentur, die sowohl als Reiseveranstalter als auch als Reisebüro tätig war.

LuxusInsider: Und wie sieht Ihre aktuelle Job-Situation aus? Vergiles: Heute arbeite ich als selbstständige Reiseberaterin. Vor drei Jahren bin ich nach Budapest, Ungarn, umgezogen. Meine Kunden legen großen Wert auf den persönlichen Kontakt, daher bin ich allein für die Beratung und Planung zuständig, unterstützt von einigen Assistentinnen. Die Mehrheit meiner Kunden stammt aus der Ukraine – heute leben sie jedoch über ganz Europa verteilt: in Deutschland, Ungarn, der Ukraine … Trotz meines Umzugs bin ich offiziell nach wie vor als ukrainisches Reisebüro registriert. Die Rahmenbedingungen für kleinere Unternehmen sind in der Ukraine sehr attraktiv, und es gibt viele unternehmerische Möglichkeiten. Eine große Herausforderung ist allerdings die Beschränkung ukrainischer Bankkonten: Geschäfts- wie Privatkunden dürfen seit Kriegsbeginn monatlich maximal 2.000 Euro im Ausland ausgeben. Deshalb ist es wichtig, zusätzlich über ein internationales Bankkonto zu verfügen.

LuxusInsider: Haben Sie von Kriegsbeginn an daran geglaubt, dass Sie auch weiterhin als Reiseberaterin tätig sein können? Vergiles: Damals konnte ich eigentlich gar nicht richtig denken – alles geschah so plötzlich und unerwartet. Niemand von uns hätte je geglaubt, dass so etwas passieren könnte. Rund ein halbes Jahr lang dachte ich gar nicht über meine berufliche Zukunft nach. In dieser Zeit ging es für uns alle nur darum, zu überleben und in Sicherheit zu sein. Erst im Herbst 2022 begann ich langsam, erste Schritte für den Wiederaufbau meines Unternehmens zu machen. Etwa zu dieser Zeit meldeten sich auch die ersten Kunden wieder bei mir. Und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich in den sozialen Medien viele neue Follower gewonnen hatte – obwohl ich dort lange nichts mehr gepostet hatte.

LuxusInsider: Ist es denn schwierig, Urlaub für Kunden zu buchen, die noch in der Ukraine leben? Gibt es da Einschränkungen, die man beachten muss? Vergiles: Offiziell gibt es keine Einschränkungen – dennoch ist die Situation mit einigen Herausforderungen verbunden. Während des Kriegs dürfen Männer die Ukraine nicht verlassen, es gelten strenge Regelungen. Deshalb kann ich aktuell nur Reisen für Frauen und Kinder organisieren. Hinzu kommt, dass es momentan keine Flüge aus der Ukraine gibt. Das bedeutet: Viele meiner Kunden müssen zunächst eine lange Anreise in ein Nachbarland auf sich nehmen, um überhaupt den nächstgelegenen Flughafen zu erreichen.

LuxusInsider: Wie haben Ihre Kunden auf den Umzug reagiert? Vergiles: Einige meiner Kunden wissen vermutlich gar nicht, dass ich umgezogen bin. Während der Pandemie hat sich das Reisegeschäft stark ins Digitale verlagert – und für viele hat der Standort an Bedeutung verloren. Jene, die davon wussten, hat es offenbar nicht gestört. Meiner Erfahrung nach ist heute die Sprache ein stärkeres Zeichen von Patriotismus als geografische Grenzen: Viele Menschen in meiner Heimat sind vom Russischen zum Ukrainischen übergegangen. Auch meine Social-Media-Kommunikation findet überwiegend auf Ukrainisch statt. Wenn ich ausnahmsweise mal etwas auf Russisch poste, erhalte ich dennoch keine negativen Reaktionen. Seit meinem Umzug habe ich viele neue Kunden gewonnen – vor allem Ukrainer, die mittlerweile in Ungarn leben. Aber auch viele Familien, in denen ein Teil aus der Ukraine stammt, andere Teile aus Ländern wie Ungarn oder Polen. Viele dieser Familien sind übrigens schon lange vor Beginn des Kriegs ausgewandert.

LuxusInsider: Was war die größte berufliche Veränderung, die Ihr Neustart in Budapest mit sich gebracht hat? Vergiles: Da mein Unternehmen in der Ukraine registriert ist, konnte ich meinen Kunden stets eine große Auswahl an Zahlungsmöglichkeiten anbieten. Viele Ukrainer bevorzugen nach wie vor Barzahlung – selbst bei größeren Beträgen. Allerdings schreibt das ukrainische Gesetz vor, dass Barzahlungen innerhalb weniger Tage auf ein ukrainisches Bankkonto eingezahlt werden müssen – was ich aus dem Ausland natürlich nicht umsetzen kann. Deshalb musste ich alternative Lösungen finden, die für meine Kundschaft komfortabel und vertrauenswürdig sind. Was mich am meisten überrascht hat – und gleichzeitig eine große Herausforderung darstellt – ist die geringe Zahl an Direktflügen ab Ungarn. In der Ukraine gab es während der Hauptreisezeit zahlreiche Verbindungen zu beliebten Urlaubszielen.

Julia Vergiles gründete Vergiles Travel 2013. Kurz nach Kriegsbeginn 2022 musste sie ihren Sitz nach Budapest verlegen.

Am 24. Februar 2022 begann Russland eine groß angelegte Invasion der Ukraine. Seitdem sind mehr als 13.000 Zivilisten umgekommen, mehr als 30.000 wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt. 6,9 Millionen Menschen gelten als Kriegsflüchtlinge. Die Schäden an Sachanlagen und Infrastruktur werden mit 176 Milliarden US-Dollar beziffert, der wirtschaftliche Verlust ist noch deutlich höher: Experten gehen von insgesamt 589 Milliarden US-Dollar aus.

Quelle: Statista

"Ich habe ausschließlich Unterstützung und Verständnis von Menschen in der Branche erfahren."

LuxusInsider: Was buchen Ihre Kunden aktuell am häufigsten? Vergiles: Ich bin auf Familienreisen spezialisiert und suche entsprechend ständig nach passenden Unterkünften für Familien und kleinere Gruppen. Diese Saison entwickelt sich besonders spannend: Meine Kunden interessieren sich vor allem für Reiseziele wie Mallorca, Kroatien und die Vereinigten Arabischen Emirate – auch für den Winterurlaub. Yachten sind ebenfalls stark nachgefragt. Die Türkei, früher ein absoluter Favorit unter ukrainischen Reisenden, wird derzeit deutlich seltener angefragt. Ich vermute, das liegt unter anderem an der großen Zahl russischer Urlauber vor Ort. Ein weiterer Grund könnte sein, dass viele Ukrainer, die inzwischen in Europa leben, die Nähe zu neuen Ländern nutzen und Reiseziele entdecken möchten, die früher weniger einfach erreichbar waren.

LuxusInsider: Nehmen Sie noch an Messen oder Fam Trips teil? Vergiles: Ja, aber nicht mehr so häufig wie vor dem Krieg. In der Ukraine habe ich viele Einladungen bekommen – auch zu Branchenevents. Das ist hier in Budapest deutlich seltener. Mein gesamter Alltag hat sich mit dem Umzug verändert. Ich muss alles selbst organisieren, meine Familie ist nicht hier, um mich zu unterstützen. Und manchmal steht auch die Sprache im Weg – das macht vieles zusätzlich herausfordernd. Deshalb hatte ich in den letzten Jahren weniger Möglichkeiten zu reisen. Aber ich habe Pläne: Im Herbst möchte ich einen Fam Trip nach Thailand machen, und im November habe ich vor, am Deluxe Travel Market in der Türkei teilzunehmen.

LuxusInsider: Haben Sie den Eindruck, dass sich das Standing der ukrainischen Reiseberater durch den Krieg verändert hat? Vergiles: Nein, das glaube ich nicht. Für mich war die Reisebranche immer ein Umfeld, in dem Nationalität in den Hintergrund tritt. Ich habe durchweg Unterstützung, Verständnis und echte Leidenschaft von meinen Partnern in der Branche erlebt. Die schwierigen Bedingungen haben ukrainische Reiseprofis sogar noch stärker gemacht. Wer weiterhin aus der Ukraine heraus arbeitet, tut das unter enorm herausfordernden Umständen – teils ohne Strom, ohne Internet oder andere grundlegende Infrastruktur. Im Vergleich dazu ist meine Situation deutlich einfacher, weil ich in physischer Sicherheit lebe.

LuxusInsider: Können Sie dem Krieg auch irgendetwas Positives für Ihr Business abgewinnen? Vergiles: Ja, auf jeden Fall. Probleme bringen immer auch Entwicklung mit sich. Wenn Menschen gezwungen sind, Lösungen zu finden, entstehen oft die erstaunlichsten Ideen. Und genau das beobachte ich derzeit in der ukrainischen Reisebranche: Es gibt viel Fortschritt und Innovation. Auch mein Kundenstamm ist deutlich gewachsen – vor allem, weil Expats stark auf persönliche Empfehlungen setzen. Außerdem nehme ich einen Wandel in der Denkweise wahr: Die Menschen sind deutlich geduldiger geworden. Ukrainer sind es traditionell gewohnt, dass Dinge sofort funktionieren – und tun sich oft schwer damit, Alternativen zu akzeptieren, wenn ihre erste Wahl, etwa ein ausgebuchtes Hotel, nicht verfügbar ist. Aber in Europa läuft vieles anders – und ich habe das Gefühl, dass dieses Verständnis langsam ankommt.

LuxusInsider: Erlauben Sie uns eine letzte Frage: Wenn der Krieg morgen enden würde, würden Sie dann zurück in die Ukraine gehen? Vergiles: Bei dieser Frage bekomme ich Gänsehaut. Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Es hängt davon ab, wie sicher die Ukraine tatsächlich sein wird – denn nur weil der Krieg endet, heißt das noch lange nicht, dass das Land automatisch ein sicherer Ort ist. Nach dem Krieg wird es viele neue Herausforderungen geben. Und dann ist da noch meine elfjährige Tochter, die hier bei mir ist und bereits eine internationale Schule besucht. Ich werde also nicht sofort meinen Koffer packen – dieser Schritt wird vermutlich Zeit brauchen.

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Das Interview führte LuxusInsider-Chefredakteurin Iris M. Köpke.

"Dieses Jahr stehen Mallorca, Kroatien und die VAE bei meinen Kunden hoch im Kurs. Aber die Nachfrage nach der Türkei hat stark nachgelassen."

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